Europas unbekannte IT-Standorte: IT made in Schweden
Selten hat die nordschwedische Stadt Luleå so viel Aufmerksamkeit bekommen, wie vor knapp eineinhalb Jahren, als der Social-Media-Gigant Facebook den Bau eines Rechenzentrums ankündigte. An sich wäre das keine relevante Meldung gewesen, würde es sich nicht um drei Servergebäude von jeweils 28.000 Quadratmetern handeln – und damit immerhin um das größte Rechenzentrum in Europa.
Bürgermeister Karl Petersen und die rund 75.000 Einwohner konnten ihr Glück kaum fassen: Was man der kleinen Stadt sonst eher als Nachteil ausgelegt hatte, gilt auf einmal als großer Pluspunkt: Luleå befindet sich nur rund 100 Kilometer südlich des Polarkreises an der Ostseeküste. Die Durchschnittstemperaturen liegen gerade mal bei 1,3 Grad Celsius. Ideale Bedingungen, um die extrem hohen Kosten für die Kühlung bei einem Rechenzentrum niedrig zu halten.
Ein weiterer Pluspunkt: Facebook will bei der Energiebereitstellung vor allem auf erneuerbare Quellen zurückgreifen. Im Fall von Lulea heißt das auf Meerwasser. Das Rechenzentrum soll den gesamten Datenverkehr des sozialen Netzwerks für Europa, den Nahen Osten und Afrika abdecken und Ende 2014 fertig sein. In der ersten Bauphase dürfte Facebook 1 Milliarde schwedischer Kronen für den Bau ausgeben, was ungefähr 120 Millionen Euro entspricht. Bis zur Fertigstellung soll das Projekt laut Berechnungen der Stadtverwaltung von Lulea bis zu 5 Milliarden Kronen kosten.
Wettbewerbsfähigkeit als Trumpf
Doch Schweden hat als IT-Standort viel mehr zu bieten als stabile Kälte und viel Wasser, um Rekorde zu brechen. Nach Angaben des Arbeitgeber- und Fachverbands Almega setzte der IT-Sektor in Schweden 2011 rund 589 Milliarden Kronen um. Er trägt damit etwa vier Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Bei einem ITK-Gesambranchenzuwachs von fast 9 Prozent verzeichneten 2011 Software und IT-Beratung ein überdurchschnittliches Plus, Hardware ein eher schwaches. Der Unternehmenssektor steigerte im selben Jahr seine ITK-Ausgaben um 10 Prozent auf 37,6 Milliarden Kronen.
Impulse von staatlicher Seite sollen die ITK in Schweden weiter stärken: Beispielsweise fordern immer mehr Stimmen eine Ausweitung des vom Stockholmer Stadtrat eingeführten Textmining-Systems zur Strukturierung und Auswertung medizinisch relevanter Daten auch auf andere Landesteile. Ferner plant die Regierung, innerhalb von drei Jahren 0,5 Milliarden Kronen in den Breitbandausbau zu investieren.
“Schweden ist ein äußerst attraktiver Standort für Informations- und Kommunikationstechnologie”,sagt Heiko Steinacher, Repräsentant der Germany Trade and Invest, der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing der Bundesrepublik Deutschland, in Schweden. “Das liegt sicherlich nicht an den niedrigen Arbeitskosten. Die Löhne selbst liegen zwar nur leicht über den deutschen, aber die gesamten Arbeitskosten sind relativ hoch.”
Steinacher weiter: “Die Gründe für den IT-Spitzenplatz Schwedens liegen eher in der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit.” Auf dem Competitevness Index der Business Software Alliance (BSA) liegt Schweden laut den immer noch aktuellen Zahlen von 2011 auf Platz 4. Zum Vergleich: Deutschland kommt da nur auf Rang 15.
Kista – Das ITK-Herz Schwedens
Im Norden Stockholms, genauer im Stadtbezirk Rinkeby-Kista, haben sich rund 10.000 Firmen zu einem Technologie-Cluster zusammengezogen, darunter 1100 ITK-Unternehmen. Die Kista Science City ist auf Wireless, Breitband und Mobilfunkanwendungen spezialisiert. Der Standort liegt verkehrsgünstig zur Autobahn E4 und dem Stockholmer Flughafen. Mit zirka 24.000 IT-Beschäftigten ist Kista das größte IT-Zentrum in Schweden, vielleicht sogar in ganz Europa.
Der Löwenanteil mit 12.000 Beschäftigten entfällt auf den schwedische Telekommunikationsanbieter Ericsson, der in Kista seinen Hauptsitz hat. IBM und Microsoft haben dort ebenfalls größere Niederlassungen und beschäftigen jeweils 2000 Mitarbeiter. Weitere bekannte Unternehmen wie Huawei, ZTE, Fujitsu oder Samsung haben ebenfalls Niederlassungen in Kista. Auch für aufstrebende Start-ups wie Cellmax Technologies, Nanoradio, Atvis Visualisation und Screen Interaction scheint Kista attraktive Bedingungen zu bieten.
Das schwedische Unternehmen Cellmax Technologies, gegründet 2001, hat sich mit hochwertigen Antennen einen Namen gemacht und gerade erst den schwedischen Telecom Award in der Kategorie “Technology supplier of the year” gewonnen. Dabei musste es sich gegen eine so starke Konkurrenz wie Samsung, Ericsson und Huawei durchsetzen. Mit seinen Produkten löste Cellmax das Problem des Energieverlustes innerhalb von Antennen bei einer Frequenz von mehr als 1800 Megahertz.
Atvis Visualisation bietet 3D- und 4D-Visualisierungen für Architekten, um Gebäude oder Flächenbebauungen per Touchscreen detailgetreu zu präsentieren. Nanoradio, ein 2004 gegründeter fabless Halbleiterhersteller, entwickelt WLAN-Chipsets für tragbare elektronische Endgeräte. 2011 gehörte Nanoradio laut der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte zu den am schnellsten wachsenden Technologiezunternehmen in Schweden und gewann zahlreiche Preise. Die Schlüsselfunktionen dieser Lösung sind der extrem niedrige Stromverbrauch und die geringe Größe. Nicht zuletzt dies gab wohl den Ausschlag für das Interesse eines Großen: Samsung kaufte Nanoradio im Juni 2012.
Weitere Technologie-Cluster in Schweden
Kista unterscheidet sich wesentlich von anderen Industrieparks oder Industriegebieten. Als Stadtbezirk von Stockholm ist der Technologie-Cluster mit zahlreichen Kulturangeboten, einer Universität, Wohnungen und der Kista Gallerie, einer riesigen Shopping-Mall mit 180 Geschäften, voll integriert.
Weitaus weniger groß ist der Lindholmen Science Park in Göteborg mit rund 330 Unternehmen aus den Bereichen ITK, Medien und Transport, allen voran dem Autobauer Volvo. Das Prinzip dieses Clusters ähnelt dem von Kista: Verkehrsgünstige Lage, Forschung, Entwicklung, Universität und Unternehmen unter einem Dach und alles quasi zu Fuß erreichbar.
Weitere Technologie-Cluster die dieses Prinzip ebenfalls nutzen, sind der Norrköping Science Park, 170 Kilometer westlich von Stockholm und der Ideon Science Park in der Nähe von Malmö mit 290 Unternehmen und rund 2000 Beschäftigten. Fast ein Viertel von ihnen kommt aus dem ITK-Sektor.
Die ITespresso-Serie “Europas unbekannte IT-Standorte”
- Türkei: Silicon-Valley am Bosporus
- Barcelona: mehr als ein Mobilfunkertreff
- Linz: Hightech & Kunst
- Bukarest: Software-Mekka auf dem Balkan
- Skolkovo: Silicon Valley vor den Toren Moskau
- Der unterschätzte kleine Bruder: Portugal
- Spanien: Die Hightech-Zentren Barcelona und Malaga
Tipp: Wie gut kennen Sie sich mit der europäischen Technologie-Geschichte aus? Überprüfen Sie Ihr Wissen – mit 15 Fragen auf silicon.de.