Das digitale Frühwarnsystem

MarketingNetzwerkeSoziale Netzwerke

Das Wort »linken« hat in den letzten Jahren eine seltsame Metamorphose durchgemacht. Früher beschrieb es ein zutiefst unehrenhaftes Verhalten, im Sinne von »jemanden übers Ohr hauen.« Doch dann kam Google und erklärte das Linken, also das Setzen von Hyperlinks, zum Maß aller Dinge im Suchmaschinen-Ranking: Je häufiger jemand auf meine Website verlinkt, desto weiter oben stehe ich, wenn jemand meinen Namen eingibt. Ein ganzer Industriezweig, nämlich die Suchmaschinen-Optimierer, leben im Grund davon, die Leute zu linken, und wir empfinden das als durchaus positiv.

Wir treten auch fleißig irgendwelchen sozialen Netzwerken bei, weil wir dadurch auf einen Schlag mit Tausenden von potenziellen Kunden oder Partnern verlinkt sind und per Mausklick mit ihnen Kontakt aufnehmen können. »Empfehlungs-Netzwerke« nennen sich denn auch die großen Business Networks wie Xing oder LinkedIn, und irgendwie gehen alle offenbar davon aus, dass sich dort nur Ehrenmänner tummeln. Obwohl wir doch eigentlich alle ganz genau wissen, dass dort, wo viele sich versammeln, mit Sicherheit auch ein paar Stinkstiefel dabei sein müssen, weil das in der Natur des Menschen liegt. Und das Internet soll da anders sein? Wohl kaum.

Empfänger verzogen

Nehmen wir zum Beispiel Ralf H. Er ist ein netter junger Mann, sogar ein Berufskollege. Er hat sich irgendwann selbstständig gemacht und eine Agentur gegründet, die Konferenzen zum Thema Web 2.0 und Empfehlungsmarketing organisierte. Nur gingen die Geschäfte offenbar schlecht, und als ein großer Kunde eine Rechnung nicht bezahlte, war Ralf H. plötzlich pleite.

Leider schuldete er mir selbst noch Geld. Wir hatten einen Vertrag, weil ich als Moderator auf einem seiner Konferenzen aufgetreten war. Auch diese Rechnung wurde nie bezahlt, woher auch? Und der junge Herr H. tat das, was viele Schuldner tun: Er antwortete nicht mehr auf meine Mails, das Telefon blieb stumm und Mahnungen kamen zurück mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt verzogen«. Es war ja nicht sehr viel Geld, aber ein paar Tausender waren es schon. Dafür muss eine alte Frau lange stricken, und so begann ich, mich über Ralf H. zu ärgern.

Herr H. hat wohl gehofft, er könne mir entkommen. Aber da hat er die Rechnung ohne das Internet gemacht. Als ich nämlich irgendwann bei Xing nach »Ralf H.« suchte, fand ich sein Profil mit Foto und allen möglichen Angaben, aus denen hervorging, dass er ein Ehrenmann sei, mit dem man doch bitteschön Geschäfts machen solle. Von seiner Pleite stand da nichts, auch nichts von unbezahlten Rechnungen. Ist ja klar: Wer sich selbst in einem solchen Business-Netzwerk darstellt, versucht sich in ein möglich gutes Licht zu stellen.

Empfehlung auf Gegenseitigkeit

Solche Netzwerke funktionieren nach dem schönen Prinzip der Gegenseitigkeit: Empfiehlst du mich, empfehle ich dich. Und am Ende haben dann alle etwas davon. Das setzt aber voraus, dass sich wirklich nur Leute dort präsentieren, die empfehlenswert sind. Und was ist mit den faulen Äpfeln?

Ralf H. und ich sind über Xing mit einer Menge Menschen verbunden, die einen sehr honorigen Eindruck machen: ein Professor am Fraunhofer-Institut, zwei Verlagsgeschäftsführer, drei PR-Agenturchefs, eine Handvoll freier Journalistenkollegen und jemand vom Bundeswirtschaftsministerium. Einige von ihnen haben auch schon Geschäfte mit Herrn H. gemacht, und wenn er in Zukunft wieder welche machen will, dann wird er vermutlich auf diese Kontakte angewiesen sein.

Das wird aber für ihn nicht mehr ganz so einfach sein, denn ich habe mir die Mühe gemacht, unsere gemeinsamen Bekannten alle anzuschreiben. Nein, ich habe ihn nicht als einen Betrüger oder Gauner beschimpft. Ich habe nur ganz harmlos nachgefragt: »Weiß eigentlich jemand, wo der junge Herr H. abgeblieben ist? Er schuldet mir nämlich leider noch Geld.«

Ruf ist nachhaltig ruiniert

Ein paar Mausklicks haben also genügt, um seinen Ruf nachhaltig zu ruinieren. Gut, er ist ja selber schuld. Hätte er mich damals angerufen und gesagt: »Mensch, Cole, tut mir leid, aber ich habe Pech gehabt und ich kann Ihre Rechnung nicht bezahlen«, dann wäre ich wahrscheinlich der Letzte gewesen, der ihn ins Messer hätte laufen lassen. Ich hätte vermutlich mit den Zähnen geknirscht und die Rechnung ausgebucht. Das Leben geht weiter, und irgendwann hätte er die Sache ja vielleicht wieder gut machen können, wenn er wieder auf die Füße gekommen wäre. Ich war aber sauer, weil er einfach abgetaucht ist, und so habe ich auch keine Gewissensbisse gehabt, andere vor ihm zu warnen.

Xing als Fahndungsinstrument

Was dann aber geschah, hat mich doch ziemlich überrascht. Meine kleine Aktion bei Xing hat nämlich eine zum Teil recht heftige Diskussion darüber ausgelöst, ob es denn statthaft sei, in einem solchen Empfehlungs-Netzwerk auch eine negative Empfehlung abzugeben. Einer, den ich angeschrieben hatte, war sogar recht wütend, weil ich angeblich Xing als »Fahndungsinstrument” missbraucht hätte. Andere meinten, sowas »gehöre nicht hierher«.

Andere gaben mir Recht: Sie bedankten sich sogar ausdrücklich und meinten, es sei die Pflicht jedes Xing-Mitglieds, andere vor schwarze Schafe zu warnen.

Aus den meisten Zeilen ging aber eine Art Unwohlsein hervor. Die meisten hatten keine Lust, sich in so eine Sache hereinziehen zu lassen. Ich sollte das doch lieber mit Herrn H. direkt ausmachen. Aber wie, wenn ich doch nicht wusste, wo er abgeblieben ist?

Ich bin übrigens kurz darauf in einem anderen so genannten »Kompetenz-Netzwerk« wieder über Herrn H. gestolpert. Er hatte sich viel Mühe gemacht, dort eine ausführliche Beschreibung von sich und seiner Firma zu hinterlassen in der Hoffnung, dass jemand das liest und ihm dann einen Auftrag gibt. Daraus wird wohl leider auch nichts mehr, denn ich habe die Betreiber dieses Netzwerks gleich angemailt und ihnen von meinem Problem berichtet. Ein paar Stunden später war der schöne Eintrag von Herrn H. bereits gelöscht. Der Netzbetreiber hat sich sogar schriftlich bei mir bedankt. »Wir sind auf solchen Rückfluss angewiesen, damit wir unsere legitimen Partner und Kunden vor Betrügern schützen können.«

Die Frage ist also legitim: Liegt der Sinn und Zweck eines »Empfehlungsnetzwerks« wie Xing oder LinkedIn auch darin zu liegen, ein Alarmsystem zu sein, um anständige Mitglieder zu schützen? Würden solche Platfformen ausschließlich der positiven Selbstdarstellung dienen, wäre das ja schließlich unehrlich, vielleicht sogar unmoralisch. Andererseits ist schnell die Grenze zum Denunziantentum überschritten.

Gerade deshalb finde ich, dass wir diese Grenzen ausloten und uns auf Spielregeln einigen sollten, so wie wir es in der »richtigen« Welt tun. Schufa und Kreditreform gelten nicht als Petzer, sondern als legitime Anbieter von Informationen zum Schutz von Gläubigern. Sie kassieren dafür viel Geld. Xing kann eine ähnliche Funktion gratis erfüllen, wenn sie sich (auch) als eine Schutzgemeinschaft versteht. Zumal sie sehr viel wirkungsvoller sein kann.

Eine umfassende digitale Identität

Man kann diesen Gedanken sogar weiterspinnen. Was, wenn es möglich wäre, die bislang fein säuberlich getrennten Reputationen, die wir bereits in verschiedenen Netzwerken besitzen (zum Beispiel die eBay-Bewertung, etc.) zu einer umfassenden »digitalen Identität« zu konsolidieren? Es würde sich eine Art Gesamt-Reputation ergeben, eine Art digitales Leumundszeugnis. Handverkäufer und Autohändler könnten einen solchen »eRuf« durchaus bei der Bonitätsprüfung heranziehen, es könnte beim Ratinggespräch der Banken eine Rolle spielen, die jeder Kreditnehmer im Rahmen von Basel II einmal im Jahr über sich ergehen lassen muss.

»Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert«, reimte einst der Dichterfürst Wilhelm Busch. Das heißt, eigentlich war es wohl Bertold Brecht. Vielleicht aber auch der Leipziger Kabarettist Werner Kroll. So ganz genau weiß man nicht, wer es gesagt hat, und das ist irgendwie auch typisch fürs Internet, wo auch so manche Behauptung fortlebt, obwohl keiner mehr recht weiß, woher sie stammt, geschweige denn wie man sie wieder korrigieren soll.

Rufmord per Internet

Das ist schlimm genug für den Privatmenschen, der seinen guten Ruf zunehmend von Denunzianten-Portalen wie »rottenneighbor.com« bedroht sieht. Dort darf jeder, der will, ungeprüft über seine Nachbarn herziehen, nach dem Motto: »Maier vom Hinterhaus schlägt seine Frau regelmäßig mit nassen Handtüchern, damit es keine Striemen gibt«. Auch in Deutschland besorgen längst Websites wie »nachbarVZ.eu« oder »mietbewertung.com« das schmutzige Geschäft mit dem Rufmord per Mausklick. Gegenwehr ist zwecklos, der Rechtsweg ausgeschlossen, und so bleibt dem so Verunglimpften letztlich nichts übrig, als mit den Zähnen zu knirschen und weiter zu leben.

Firmen haben da schon andere Möglichkeiten, den guten Namen im Internet zu verteidigen. Schließlich bieten sich ja inzwischen jede Menge Agenturen und Experten an, die – gegen gutes Geld – so genanntes »Reputations-Management« für Unternehmen betreiben, die von ihren Kunden oder Konkurrenten online kritisiert oder beschimpft werden, zu Unrecht oder auch zu Recht.

Grund sind die vielen »Meinungs-Portale«, die in den letzten Jahren entstanden sind und wo sich jeder über jeden auslassen darf. Wer sich über vermeintlich schlechten Service oder mindere Produktqualität ärgert, surft hinüber zu »ciao.de« oder »dooyoo.de« und macht sich erst mal Luft. Der nächste Kunde überlegt, ob er bei dieser Firma bestellen soll, sieht den virtuellen Brandbrief und kauft woanders ein. Die neue Macht des Kunden im Internet – nirgends wird sie deutlicher sichtbar als hier.

Reputations-Mangement

Das Schlimmste aber ist: Die meisten Unternehmer wissen gar nicht, welchen Ruf sie online genießen – und es ist ihnen offenbar auch egal, sonst würden sie sich darum kümmern. Das Allermindeste wäre, dass man als Chef oder Produktverantwortlicher ein- oder zweimal die Woche den eigenen Firmennamen bei Google eingibt und nachschaut, was so über einen so geredet wird.

Noch besser wäre es, Profis wie Sören Mohr von »reputation-control.de« ran zu lassen. Der sitzt in Kiel und bietet, wie er sagt, »ein innovatives Frühwarnsystem« für Unternehmen, die sicher sein wollen, dass ihr guter Ruf im Internet nicht scheibchenweise ruiniert wird. Mohr und seine Leute haben eine Software geschrieben, die alle wesentlichen Meinungs-Portale und Bewertungs-Websites durchkämmt und die Fundstellen in einem Berichtsformular zusammenführt. Die Treffer werden analysiert, die Negativmeldungen nach Relevanz gewichtet und gefiltert (»Nörgler«, »berechtigte Kritik«, »rufschädlich«).

Aber was dann? Mohr setzt auf »kreative Handlungskonzepte« und auf »Feedback-Management«. Er meint wohl: Reden wir mit den Leuten und versuchen, sie zu beruhigen und zur Rücknahme der schlechten Bewertung zu überreden.« Klassisches Beschwerde-Management also.

Fragwürdige Tipps

Viel radikaler ist sein Kollege Mikkel deMib Svendsen, ein junger Däne, der behauptet, »creative search engine marketing« zu betreiben. Wie kreativ er ist, hat er einmal auf der SMX demonstriert, einer Konferenz zum Thema Suchmaschinenoptimierung in München. Er wurde von einem Zuhörer gefragt, was man denn als großer, internationaler Markenanbieter tun könne, wenn jemand im Internet massiv Rufmord gegen ihn betreibt. Mikkel hatte eine ganze Reihe etwas fragwürdiger Tipps auf Lager, zum Beispiel diesen: »Engagieren Sie einen guten Hacker, der seine Website runternimmt. Oder schicken Sie ihm gleich die Russenmafia ins Haus.« Auf empörte Einwürfe hin reagierte Mikkel lapidar: »Ist zwar illegal, aber Sie müssen schließlich selbst wissen, was Sie tun, um ihren guten Namen zu verteidigen…«

Früher hätte man ein solches Verhalten schlicht als »link« bezeichnet. Aber inzwischen müssen wir uns wohl einen neuen Begriff dafür einfallen lassen. Eines ist jedoch klar: Im Internet kommt alles irgendwann mal heraus. Was sofort Erinnerungen weckt an alte John Wayne-Filme, in denen der Sherriff dem Bösewicht mit knurriger Stimme die markigen Worte zu raunzt: »You can run, but you can’t hide« – »du kannst fliehen, aber du kannst dich nicht verstecken.«

Lesen Sie auch :