Wissenschaftler: Wikipedia als Online-Nachschlagewerk nur bedingt geeignet

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Wiki-Watch (Grafik: Europa-Universität Viadrina)

Zu diesem Schluss kommt das im Studien- und Forschungsschwerpunkt Medienrecht angesiedelte Projekt Wiki-Watch der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. “Weltsichtverbreiter und Ideologen” gäben ihren Positionen Vorrang vor enzyklopädisch angemessener Darstellung. Die Zahl der Autoren schrumpft zudem weiter.

Wikipedia erfüllt nur bedingt und vor allem immer weniger den eigenen Anspruch, ein Online-Nachschlagewerk zu sein. Zu diesem Ergebnis kommen die Wissenschaftler des im Studien- und Forschungsschwerpunkt Medienrecht angesiedelten Projekts Wiki-Watch der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder in ihrem Rückblick auf das Jahr 2015. Darin greifen sie Debatten der Wikipedia-Community im vergangenen Jahr auf, kommentieren sie und stellen sie in den größeren Zusammenhang.

Wiki-Watch (Grafik: Europa-Universität Viadrina)

Außerdem hat die Arbeitsstelle Wiki-Watch ermittelt, dass die Anzahl der Autorinnen und Autoren in der deutschsprachigen Wikipedia seit 2012 um rund 15 Prozent zurückgegangen ist. Während es damals noch 22.113 waren, engagierten sich im Januar 2015 nur noch 18.903 Personen. Kriterium waren dabei Artikel-Bearbeitungen innerhalb der vergangenen 30 Tage

Am 19. Januar 2016 wurde Wikipedia von Wiki-Watch zufolge übrigens allein im deutschsprachigen Bereich 24,42 Millionen Mal benutzt. Hier stehen Nutzern derzeit 1,90 Millionen Artikel zur Verfügung. Davon wurden in den vergangenen 24 Stunden 9915 von 2535 angemeldeten Editoren bearbeitet. Die jeweils aktuellen Zahlen zeigt das von Professor Johannes Weberling geleitet Projekt jeweils auf seiner Homepage an.

Zum Rückgang der Anzahl der aktiven Autoren tragen sicher auch die von Wiki-Watch zusammengetragenen Kritikpunkte der Community bei. Insbesondere im deutschen Sprachraum wird zum Beispiel die rigorose Handhabung der Relevanzkriterien und die Löschpraxis bemängelt. Außerdem werden die gestiegenen Ansprüche der Administratoren an Artikel und deren Umgangston mit weniger erfahrenen Autoren bemängelt, mit dem sie besonders Einsteiger vergraulten. Die hätten es zudem aufgrund der unübersichtlichen Struktur von Hilfen und Anweisungen schwer, sich zurechtzufinden.

Schwierigkeiten macht den Wikipedia-Autoren aber auch die Tendenz, dass immer mehr Online-Publikationen auf Bezahlschranken setzen. Dadurch wird ihnen die Möglichkeit genommen, Angaben in Artikeln durch Links auf frei verfügbare journalistische Quellen zu belegen. Das macht die Arbeit schwerer, ist aber nicht unbedingt nur ein Nachteil, wie die Wiki-Beobachter aus Frankfurt an der Oder meinen: “Wikipedianer müssen sich also in Zukunft wieder mehr auf die ‘klassische’ Recherchearbeit – sprich: verstärkte Nutzung von Bibliotheken und Printmedien – einlassen. Was der Solidität der Artikel eher zu- als abträglich sein dürfte.”

Die “Solidität der Artikel” wurde 2015 – ähnlich wie schon 2013 und 2012 erneut durch Enthüllungen erschüttert, dass Autoren ihre Position für bezahlte PR-Tätigkeiten missbraucht beziehungsweise Agenturen gezielte SEO-Optimierung durch Verfassen von Wikipedia-Artikeln oder –Absätzen nicht nur angeboten, sondern auch durchgeführt haben. Ebenfalls abträglich sei die Einstellung vieler Autoren, die sich nicht gegen Geld, aber aus eigenem Antrieb und eigener Überzeugung, regelmäßig dazu hinreißen lassen, Beiträge so anzupassen oder Beiträge zu erstellen, die einseitig ihre Sicht der Dinge untermauern.

Besonders auffällig sei das bei Wikipedia-Artikeln über Personen der Zeitgeschichte. Als Beispiel dafür nennen die Viadrina-Wissenschaftler die Artikel-Diskussion zum Eintrag über den Sänger Xavier Naidoo. Sie zeige exemplarisch, “wie Seiten zu lebenden Personen schnell zu einer Art ‘Internetpranger’ werden können.” Bei gesellschaftlich allgemein anerkannten Personen, die nicht anecken, sei dagegen der umgekehrte Sachverhalt zu beobachten: Hier bleibe Kritik nahezu völlig aus.

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