100 Prozent Open Source
Der nachfolgende Text ist von Michael Kienle, Geschäftsführer IT-NOVUM GmbH, Vorstand Open Source Business Foundation. Er vergleicht kommerzielle Software mit Open-Source-Projekten, erklärt, worauf es beim Umstieg auf Open Source ankommt und räumt nebenbei mit einigen Vorurteilen auf.
Open Source ist kein budget- und lizenzfreier Raum
Anlass für IT-Entscheider, sich mit dem Phänomen Open Source zu beschäftigen, gibt es mehr als genug: immer mehr Erfolgsmeldungen zu Open-Source-Lösungen, erheblicher – durch die Wirtschaftskrise erneut gestiegener – Kostendruck, notwendige Flexibilität in der Umsetzung oder die einhelligen Prognosen diverser Marktforschungsinstitute, dass Open Source (OS) in nahezu jedem Unternehmen zum Einsatz kommen wird.
Das sind nur einzelne Facetten einer komplexen Diskussion. Und doch ist die Sicht auf Open-Source-Lösungen immer noch beeinflusst von Ressentiments um Zuverlässigkeit und Sicherheit sowie dem Irrglauben, OS sei ein budget- und lizenzfreier Raum.
Die Messlatte für OS liegt hoch
Eine emotionslose Betrachtung reduziert dieses jedoch auf die zentrale Frage: »Wo und wie können Unternehmen Open Source-Software und darauf basierende Lösungen auf mindestens dem gleichen Niveau einsetzen, wie es kommerzielle Software heute offeriert?«
In diesem Vergleich liegt die Messlatte für Open-Source-Angebote sehr hoch. Zum einen, was Funktionsumfang und Prozessunterstützung angeht, zum anderen, was die Komplexität und Vielschichtigkeit der Infrastrukturen und der Applikationen selbst betrifft. Diese Anforderungen auf technischer Ebene werden ergänzt von formalen Vorgaben durch Compliance- und Risiko-Management einerseits und die operativen Ansprüche der Fachabteilungen an die IT-Organisation als Bereitsteller und Business-Enabler andererseits.
Mit Blick auf diesen Spannungsbogen ist es wichtig, die fünf elementaren Argumente in der Open/Closed Source-Diskussion als Grundlage für einen Vergleich zu verstehen.
Erstens: Abhängigkeit – vom Hersteller/Lieferanten und einem Release-Zyklus
Die bei Open Source mögliche Dynamik, extrem schnell und variabel auf Anforderungen oder Veränderungen zu reagieren, bringt Anwendern ein hohes Maß an Unabhängigkeit in der Entscheidung über Komponenten und deren Einsatz. Da bei Open Source die Software (d. h. der Quelltext) in einer für den Menschen lesbaren Form vorliegt, ist zudem eine eigenständige Weiterentwicklung durch den Anwender oder Dritte grundsätzlich möglich.
Auf der anderen Seite steht der bekannte Release-Prozess mit seinen geringen Einflussmöglichkeiten bei proprietärer Software und der dort weniger transparenten Releasepolitik – sowohl hinsichtlich zugesagter und tatsächlich verfügbarer Features als auch der oftmals einseitig vorgenommenen Änderung der Vertragsbedingungen (zum Beispiel: Erhöhung der Wartungskonditionen).
Zweitens: Sicherheit – Sicherheitslücken im Code und Stabilität des »Intellectual Assets«
Die Grundzüge, Merkmale und Funktionen, unter denen die Software entwickelt wird, werden öffentlich verfügbar. Das bedeutet, dass eine ergänzende oder weiterführende Entwicklung für den Anwender jederzeit transparent bleibt und mit beeinflusst werden kann; ebenso bleibt die Investitionssicherheit gewahrt. Somit erhöht sich die Chance zur Abdeckung der individuellen Prozesse durch Open-Source-Software erheblich.

Eine gute Anlaufstelle für Unternehmen oder Entwickler, die sich für professionelle Open-Source-Anwendungen interessieren, ist die Homepage der Open Source Business Foundation.
Zusätzlich ist die Tatsache, dass einerseits Sicherheitslücken im Code entdeckt und behoben werden können und andererseits Lücken beim Bekanntwerden von neuen »Einbruchsmethoden« schnell und zuverlässig geschlossen werden, ein besonderer Nutzen für die Anwender. Die Heterogenität und die Größe der Communities sorgen zudem dafür, den Blickwinkel auf mögliche Lücken zu erweitern und gleichzeitig auch die Schließung dieser nachhaltig zu betreiben.
Drittens: Flexibilität – Individuelle Anforderungen und Schnittstellen/Integration
Durch die Offenheit im Code können Anforderungen, die »nicht im Standard« sind, individuell eingebaut werden. Das kann sowohl durch den Anwender selbst passieren, aber auch durch eine in der jeweiligen »Community« initiierte Gemeinschaftsentwicklung oder einen spezialisierten Dienstleister. Da Open-Source-Lösungen auf den modernsten Ansätzen der Softwareentwicklung basieren, können Komponenten zur Integration und für Schnittstellen sehr flexibel und dynamisch bereitgestellt und integriert werden und liefern so einen wesentlichen Beitrag zu schnelleren Implementierung und einem günstigerem Betrieb.
Viertens: Kosten – Lizenzen, Wartung und Implementierung, Support
Wie eingangs erwähnt, ist Open Source kein »budgetfreier Raum«. Es fallen zwar keine direkten Kosten für die Lizenz an, je nach Geschäftsmodell mancher Open Source-Hersteller gibt es neben den sogenannten »Community-Versionen« über zusätzliche Funktionen und Qualitätsicherung aufgewertete »subskriptionspflichtige« Versionen. Diese Modelle verursachen genauso Kosten, basieren aber oft auf anderen Berechnungsmodellen als bei Software-Herstellern und sind daher oftmals günstiger.
Für geschäftskritische Anwendungen ist es unabdingbar, auf Wissen und Unterstützung über Supportverträge zurückgreifen zu können. Bei Open Source gibt es jedoch auch die Chance, Support von Partnern und nicht nur direkt vom Hersteller zu beziehen. Bei den Partner-Support-Verträgen liegt der inhaltliche Schwerpunkt weniger auf einem abstrakten Produkt-Support als vielmehr auf einem Gesamtsupport einer Lösung, d.h. eine umfassende und integrative Blickweise, welche sich über einige, miteinander verbundene Open Source Bausteine erstreckt.
Fünftens: Innovation – Prozessunterstützung und »Kooperative Individualentwicklungen«
Die Flexibilität in der Auswahl von Komponenten, individueller Entwicklung und Anpassung erlaubt auch im Verlauf des Einsatzes einer Softwarelösung schnellere und passgenauere Anpassungen, um neue Prozesse, neue Ideen für das Unternehmen abzubilden. Daneben bietet der Gedanke des »kollaborativen« Entwickelns unter Anwenderunternehmen auf z.B. Branchen- oder Fachebene eine völlig neue Quelle für Innovationen oder innovativer Umsetzung neuer Anforderungen. Hier liegt in dem Prozess selbst- der so nur durch die Grundsätze von Open Source möglich ist – ein neues Potenzial für Anwenderunternehmen.
Diese fünf Argumente visualisiert der »Open Source Diamond« und trägt so in der Beurteilung vor allem dem für die Praxis notwendigen vielschichtigen Analyseansatz Rechnung und stellt Open Source nicht per se nur in die »Billig-Ecke«. Im Einklang mit der IT-Strategie können so die Vor- und Nachteile einer OS-Lösung strukturiert herausgearbeitet und beurteilt werden.
Der organisatorische Rahmen
Vor dem möglichen operativen Einsatz ist neben einer produktspezifischen Detailsicht die Schaffung eines organisatorischen Rahmens zur Einführung notwendig: es braucht eine klar definierte Open Source-Strategie im Unternehmen, welche die Einführung und den nachhaltigen Betrieb (Stichwort Support, Releasewechsel, Interaktion mit anderer Software etc.) erst auf die Beine stellen kann.

»Eine klare Open-Source-Strategie bringt höheres Innovationspotenzial und gestiegene Investitionssicherheit.« Michael Kienle, Vorstand der Open Source Business Foundation.
Denn wer sich mit Open Source auseinandersetzt, setzt sich mit einer Viel
zahl von möglichen Lizenzmodellen – Open Source ist auch kein »rechtsfreier Raum« – auseinander. Oft unterschlagen Unternehmen, dass sie diesem »Zoo« auch bei kostenpflichtiger Software gegenüberstehen, erstaunlicherweise werden Lizenzbedingungen hier weniger genau auf die möglichen Auswirkungen für das Anwenderunternehmen geprüft, als das bei Open Source der Fall ist.
Was andererseits nicht wundert, denn bei kostenpflichtiger Software reduziert man gerne die Lizenzthematik nur auf die Kosten, die pro Lizenz (Rolle und Art) verursacht werden. Bei OS-Lizenzen ergeben sich jedoch ggf. auch Pflichten. Dies muss eine Open Source-Strategie beschreiben und zur Umsetzung bringen.
Dezentrale Bug-Fixes
Weiterentwicklungen, neue Module, Add-ons und Bugfixes entstehen bei Open-Source-Lösungen schneller und manchmal auch »dezentraler«. Ohne ein sehr gut funktionierendes Change-and-Release-Management besteht die Gefahr, eine funktionierende Lösung auf das Abstellgleis zu manövrieren.
Hier bieten die größeren Hersteller/Projekte von OS-Lösungen zwar sehr gute Mechanismen zur Release-Steuerung der Einzelkomponente, ein breit gefächerter Einsatz, ein hohes Maß an Individualkomponenten und vielfältige Schnittstellen und eine tiefgreifende Integration zwischen den Komponenten – Maßnahmen, die dank OS auf der Hand liegen – erfordern hier aber ausgeprägte Kompetenzen und Know-how im Betrieb.
Herumspielen funktioniert nicht
Zum Schluss stellt sich dann noch die Frage, wer im Unternehmen Implementierung, Integration und Entwicklung vornimmt. Können diese Tätigkeiten durch das Unternehmen selbst vorgenommen werden (sind ausreichendes Know-how, freie Ressourcen, Kontinuität vorhanden?). Denn das »Herumspielen« und nebenher mal installieren funktioniert in den wenigsten Fällen. »Make or Buy« mag auf den ersten Blick gerade im Kontext Open Source augenscheinlich im Eigenbau funktionieren, aber führt dann – bei fehlendem Know-how und Ressourcen schnell in die sogenannte »OS-Falle«.
Aus diesem Grund sind IT-Entscheider gut beraten, sich im Rahmen ihrer IT-Strategie mit dem Thema Open Source zu befassen – nicht nur auf experimenteller Ebene, sondern auf strategischer: Wo könnte ich in meinem Unternehmen OS sinnvollerweise einsetzen, wie kann ich ein Projekt einführen, welche Skills muss ich selber aufbauen, welche erschließe ich mir durch Partnerschaften zu Dienstleistern und Herstellern und welche Themen habe ich im Betrieb von OS-Lösungen zu beachten?
Abhaken von Checklisten
Basierend auf der vorgestellten Methode der Beurteilung von OS können die Möglichkeiten von bekannten OS-Lösungen mit denen von lizenzpflichtiger Software gegenübergestellt werden. Vorweg kann gesagt werden, dass OS-Lösungen in einzelnen Bereichen wie Infrastruktur (Betriebsysteme, Datenbanken, Virtualisierung etc.) und Frontend (Browser, Mobile Endgeräte, Office Anwendungen etc.) dem blanken Abhaken von Checklisten standhalten und auch im Blick auf deren Historie (Linux, Netscape/Mozilla) mehr als wettbewerbsfähig sind.
Simpler Feature-Vergleich nicht möglich
Im Bereich der Lösungen für die Geschäftsprozesse ist ein simpler Feature-Vergleich auf Produktebene nicht immer so einfach möglich. OS-Projekte entstanden sehr oft aus dem Druck und dem Engagement heraus, existierende kostenpflichtige Lösungen mit besonderen (oder nicht existenten) Funktionen zu übertrumpfen.
Zudem profitiert Open Source massiv von heutigen Technologieansätzen: Service Orientierte Architekturen (SOA) ermöglichen ja gerade das Aufspalten konventioneller monolithischer Software in einzelne miteinander kommunizierende Elemente, bei denen einzelne durchaus OS sein können; bei Software as a Service (SaaS) und Cloud Computing interessiert es den Anwender eigentlich nicht mehr, welche Software hinter einem Dienst und zugesagten Eigenschaften steht.
Der strategische Vorteil von Open Source
Genau dieses wird zukünftig den strategischen Vorteil von OS ausmachen: die Möglichkeit, unter Verwendung eines großen und stetig wachsenden OS-Baukastens schnell und einfach komplexe Lösungen aufbauen zu können. Hiermit rückt der Aspekt der »Integrations-Kompetenz« in den Vordergrund.
Es verwundert nicht, dass bei »aktuellen« Themen wie Portalen, Content Management oder Virtualisierung bereits sehr viele innovative OS-Alternativen verfügbar sind. Für Lösungen zu CRM, DMS und Prozessmanagement sowie Business Intelligence zeigen die Erfahrungen aus eigenen Projekten und die freiwilligen Bewertungen von Kunden in verschiedenen frei zugänglichen Portalen, dass hier der Vergleich nahezu ein »Unentschieden« hervorbringt und damit kostenpflichtige Software durch Open Source-Software grundsätzlich ersetzbar ist.
Lediglich in einzelnen Aspekten (z.B. freie Verfügbarkeit von Dashboard-Designer-Tools bei BI-Lösungen, etc.) zeigen sich noch Defizite; diese können zunehmend durch (semi-)kommerzielle Add-ons oder »Enterprise«-Editionen gelöst werden.
Defizite im Bereich ERP
Im Bereich ERP kann man noch ein Defizit bei Vielfalt und Menge des OS-Angebots ausmachen, gerade im direkten Leistungsvergleich zu SAP etc. Während bereits heute durchaus Mittelständler in Richtung OS-ERP schielen könnten, werden Großunternehmen mit einer kompletten OS-basierten Lösung wohl noch nicht glücklich werden. Hier zeigt sich aber wiederum ein großes Marktpotenzial für die Anbindung von OS-Komponenten an SAP, d.h. die weitere Nutzung von SAP als Kern-ERP und die integrative Anbindung von weiteren Funktionalitäten wie z.B. BI, DMS, CRM etc. auf Basis von Open Source.
Diese Lücke schließt sich immer weiter, auch getrieben von Kapitalinvestoren, die es den herstellenden Firmen ermöglichen, exponiertes Fach-Know-how für die Weiterentwicklung zu integrieren und auf Basis des moderneren Technologieansatzes heutige Kundenanforderungen zukünftig besser zu bedienen.
Höheres Innovationspotenzial
In der überwiegenden Zahl der vorgestellten Anwendungsfälle können – einhergehend mit der Chance auf einfachere und höhere Abdeckung von Individualanforderungen – Unternehmen auf Basis von Open Source zu mindestens vergleichbaren Lösungen kommen; und dieses mit einem höheren Innovationspotenzial und gestiegener Investitionssicherheit.
Voraussetzung ist jedoch eine klare Open Source-Strategie – geeignete und ausgebildete Mitarbeiter und/oder entsprechend kompetente Partner, freie Ressourcen, Investitionsbereitschaft in mehr Know-How und weniger Lizenzen, klare Vorstellungen hinsichtlich Implementierung und Betrieb – für einen nachhaltigen Projekterfolg.
(Michael Kienle/mt)
Michael Kienle ist seit 1994 in unterschiedlichen Führungsfunktionen bei Unternehmen der IT- und TK-Branche tätig und seit 2003 Geschäftsführer der IT-NOVUM GmbH. Der mittelständische IT-Dienstleister kümmert sich als IT-Berater und -Implementierer um Open-Source-Lösungen in geschäftsrelevanten und -kritischen Einsatzfeldern.
Michael Kienle ist zudem seit Ende 2008 als Vorstand für Internationalisierung in der OSBF tätig.
Weblinks
Open Source Business Foundation

Zum Expertenbeirat von eWEEK europe zählen neben Michael Kienle auch weitere hochrangige Experten wie der Innovationsberater Tom Groth, der Internet-Guru Ossi Urchs und IDC-Geschäftsführer Moussavi-Amin.