So wirkt sich Lesen im Web aufs Gehirn aus
Mit einer Kombination aus Hirnstrom- und Blickbewegungsmessung haben Tübinger Wissenschaftler Unterschiede beim Lesen von “normalen” Texten und Online-Texten festgestellt. Zu schaffen macht demnach unserem sogenannten Arbeitsgedächtnis vor allem, wenn im Online-Text Links eingebaut sind.
Christian Scharinger, Yvonne Kammerer und Professor Peter Gerjets vom Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) haben mit einer neuartigen Experimentalmethode Unterschiede der Gehirntätigkeit in Abhängigkeit davon festgestellt, ob die Testkandidaten herkömmliche Texte oder die Online üblichen Texte mit Verlinkungen lasen. Die Wissenschaftler nutzen dazu eine Kombination aus Erhebung von Blickbewegungsdaten und Frequenzenergiedaten des Elektroenzephalogramms. Das Ausmaß der kognitiven Belastung wurde dabei über die Größe der Pupille sowie die Energie der Hirnströme in bestimmten Frequenzbereichen des EEG ermittelt. Die Funktionsweise dieser Messmethode wurde zuvor in einer Studie mit Laboraufgaben erprobt.
Nun wurde in einer zweiten Studie die Methode erstmalig auf eine freie Lesesituation mit (simulierten) Hyperlinks übertragen. Die Blickbewegungsmessung erlaubte es den Forschern zu erfassen, ob gerade Textbereiche mit oder ohne Hyperlink gelesen werden. So konnten sie vergleichen, ob sich die Größe der Pupille sowie die Energie der Hirnströme in Abhängigkeit davon unterscheiden, ob ein gerade gelesener Satz Hyperlinks enthält oder nicht.
“Wie vermutet, zeigte sich beim Lesen von Sätzen mit Hyperlinks, dass die an dieser Stelle auftretenden Entscheidungsprozesse im Vergleich zu reinem Lesen tatsächlich zu erhöhter kognitiver Belastung führten”, so Studienleiter Christian Scharinger. Dies machte sich sowohl in der Energieveränderung der Hirnströme im EEG als auch in der Vergrößerung der Pupille bemerkbar. Damit konnten sich den Forschern zufolge “die mit dem digitalen Lesen verbundenen kognitiven Anforderungen bis auf die Ebene von Gehirnprozessen nachweisen lassen.”
Das sogenannte Arbeitsgedächtnis hilft uns, Texte zu verstehen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Ist in einem Text ein Hyperlink eingebaut, ist es zusätzlich gefordert. Schließlich steht eine Entscheidung darüber an, ob dem Link gefolgt werden soll oder nicht. Dieser Entscheidungsprozess findet ebenfalls im Arbeitsgedächtnis statt. Anders gesagt: Online-Texte mit vielen Links sind für Leser “anstrengender”, weil ihr Arbeitsgedächtnis mehr belastet wird.
Im nächsten Schritt wollen sie die Methode nutzen, um die Gehirnaktivität bei echten Hypertexten aus dem Internet zu analysieren und um multimediale Lernangebote zu erforschen, die eine Verknüpfung von Text- und Bildinformationen im Arbeitsgedächtnis erfordern. Sie hoffen, dass die Ergebnisse dieser Studien dazu beitragen, Hypertexte und multimediale Lernmaterialien nutzerfreundlicher und effektiver zu gestalten, beispielsweise, indem unnötige Belastungen des Arbeitsgedächtnisses vermieden werden.